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Der städtischen Natur auf der Spur

„Eine Reise durch urbane Gärten“ empfehlen die beiden Autorinnen Renate Künast und Victoria Wegner in ihrem im März 2019 erschienenen Buch „Rein ins Grüne – Raus in die Stadt“. „Für uns sind diese Gärten auf besondere Weise Gesamtkunstwerke… Sie entwerfen ein Bild von lebenswerten Städten der Zukunft und unserer Nahrung, die wir getrost ‚Mittel zum Leben‘ nennen können“, schreibt Künast im Vorwort. 22 solcher Areale werden im Detail vorgestellt und zwei davon sind die Essbaren Städte Andernach und Kassel. Die Politikerin Renate Künast (Bündnis 90/Die Grünen) und die Gartenredakteurin Victoria Wegner besuchten vorwiegend Gärten in der Bundesrepublik, schauten aber auch über die Landesgrenzen hinaus nach Österreich und in die Schweiz.

 

Der Schwerpunkt liegt auf Berliner Gärten, die Künast als Abgeordnete des Deutschen Bundestags wohl am besten kennt. Im Stadtteil Wedding gelegen ist himmelbeet, wo Ur-Berliner, Menschen mit Migrationshintergrund und Behinderte gärtnern. – Der Prinzessinnengarten in Kreuzberg gehört zu den größten Urban-Gardening-Projekten in Deutschland, neben der städtischen Landwirtschaft bietet er auch: Bienen, Café und Küche, Märkte, Werkstätten, Workshops und Seminare. – Hoch über den Dächern von Neu-Kölln thront der Kulturdachgarten „Klunkerkranich“. Außer dem Gärtnern gibt es Angebote für Frühstück und Mittagessen, am späten Nachmittag werden in der warmen Jahreszeit diverse Kulturveranstaltungen geboten und bei gutem Wetter kann man den Sonnenuntergang von oben bewundern. – Der Gemeinschaftsgarten Allmende-Kontor am Tempelhofer Feld, wo sich früher der berühmte Flughafen befand, gilt als der „Central Park“ von Berlin. Eine Besonderheit sind die Landschaftspfleger auf vier Beinen: eine Herde von Schwarzkopfschafen, die im Herbst den Rasen abgrasen. – Die ECF Farm wird in einer ehemaligen Malzfabrik in Schöneberg betrieben und arbeitet nachhaltig und innovativ. In 20 Becken werden Buntbarsche in einer optimierten Aquakultur gezüchtet, die die Ressource bilden für Pflanzenanbau ohne Erde, der Hydroponik.

 

Besonders interessant sind die diversen Sonderthemen im Buch, darunter „Meine Ernte“ und „Ackerhelden“. Darin geht es um den wachsenden Wunsch nach Unabhängigkeit von industriell gefertigter Nahrung, um mehr Ernährungssouveränität durch Selbsterntegärten. Im Kapitel zur Essbaren Stadt erwähnen die Autorinnen 140 Essbare Städte in Deutschland (Tendenz steigend): „Lokale Akteure der Lebensmittelversorgung, Anbieter, Märkte, Slow Food, Food-start-ups, Metzgereien, Gourmets, Eltern, Politiker, Essensretter, Tafeln und Ökobauern schließen sich in immer mehr Städten zusammen“ (S. 49). Dies führt oft zur Gründung von Ernährungsräten, deren Ziel es u. a. ist, sich im Rahmen eines möglichst breiten Netzwerks die Entscheidungshoheit über unsere Nahrung zurückzuholen. (Köln und Berlin sind die ersten deutsche Städte mit einem Ernährungsrat, denen immer mehr weitere folgen).

 

Nach Ansicht von Künast und Wegner ist Saatgut ein Kulturgut, das frei zugänglich sein sollte. Im letzten Jahrhundert seien 75 % aller Sorten zerstört worden. Heute sind von Konzernen entwickelte Hybride auf dem Markt, für die Patente bezahlt, Agrochemie und immer wieder neues Saatgut gekauft werden muss. Die Firmen Bayer/Monsanto, ChemChina/Syngenta und Dow/DuPont beherrschen den Weltmarkt. „Die Freiheit der Bauern, die Rechte an ihren alten Sorten zu behalten, ist in Gefahr“ (S. 83). In Zahlen: Es gibt rund 80.000 Nutzpflanzen, von denen nur noch 5.600 angebaut werden. Nur 150 davon werden in intensiver Landwirtschaft betrieben, was die Bewahrung und das Behüten von Saatgut bedrohter Pflanzenarten umso bedeutsamer macht. Im Buch sind Adressen des Online-Handels zu finden; aber auch lokale Saatgutbörsen oder der Gartenbetreiber in der Nachbarschaft sind gute Quellen.

 

Das Hauptaugenmerk liegt auf der Vorstellung der Gartenprojekte, wobei die Auswahlkriterien nicht genannt werden. So wird in Köln der Carlsgarten aufgeführt, der nur einer von vielen in der Domstadt ist. Er wurde auf einem Industriegelände angelegt, in dem derzeit das Ausweichquartier des Schauspiels Köln angesiedelt ist, und wertet den Ort dadurch sehr auf. Im Gesamten geben die ausgewählten Gärten aber einen guten Überblick über die Themenvielfalt und einige Aspekte wiederholen sich dabei. Ob Gartenwissen jeder Art, ökologischer Anbau, Misch- und Permakultur, Biodiversität, ob Bewässerungsstrategien, Klimaschutz, Recycling, Upcycling, Ressourcenschonung, Inklusion aller Bevölkerungsschichten, Kinder- und Jugendaktivitäten, Behindertenarbeit, Sozialarbeit, Umweltbildung, Kulturveranstaltungen, Gartenfeste, Wertschätzung und Sicherung von Nahrung, die Liste kann noch fortgeführt werden. Die Politik könnte mit der Unterstützung dieser Gärten eine Vielzahl von Projekten auf einmal fördern. Leider ist es häufiger so, dass Gärten nur für eine begrenzte Zeit eingerichtet werden, wie Inselgrün in Stuttgart, die dann lange nicht wissen, wohin sie umziehen können.

 

Die Autorinnen gehen noch auf zwei grundlegende Voraussetzungen ein. Im Kapitel über Bienenschutz wird ganz klar gesagt, dass die Bienen vor Patentierung und Privatisierung zu schützen seien, damit es ihnen nicht wie vielen Pflanzen erginge. Die Imker-Organisation Apimondia setzt sich dafür ein. Die Europäische Kommission legte 2018 einen Aktionsplan zum Schutz aller bestäubenden Insekten vor, der aber nicht ausreichend ist. „Wir müssen Schluss machen mit den Pestizidanwendungen – sofort“ (S. 114), fordert Künast. – Des weiteren sind gesunde Böden vonnöten, die die Autorinnen das „neue Gold“ nennen. Solche Erde wird als Alleskönner beschrieben und als „Ökodienstleister“, dessen Wert unschätzbar ist. Bei künftigen Entscheidungen über  Pestizide steht für Künast fest: „Totalherbizide wie Glyphosat dürften dann keine Zulassung mehr bekommen“ (S. 149). Beide Sonderkapitel sind mit entsprechenden Kontaktadressen und Links versehen.

 

Künast fragte Sebastian Pomm von der Gartengemeinschaft Annalinde in Leipzig nach seinen Wünschen an die Politik und er sprach wohl für viele Akteure und Akteurinnen: Erstens, eine Ausweitung der Fördermittel für urbane Landwirtschaft und ein Überdenken der ganzen „EU-Landwirtschaftsmaschinerie“ (S. 105). Zweitens wünscht er sich  Ernährungskonzepte für die Städte, ähnlich wie Wasserkonzepte, die jede Stadt hat. Zum Dritten möchte er feste Maßgaben für die Anbieter öffentlicher Speisung, sei es in Schulen, Kantinen, Krankenhäusern etc. Der Anteil lokal erzeugter und am besten noch biologisch angebauter Nahrungsmittel sollte darin festgeschrieben sein.

 

Das Buch ist mit wunderbaren Fotos illustriert und wurde von der Grafikerin Heike Czerner sorgfältig und liebevoll gestaltet, so dass es sich als Geschenkband eignet. Inhaltlich ist es eher breit angelegt und es überwiegen die Elemente, die Lust auf Gärtnern machen. Die kritischen Töne sind in dieser Rezension etwas hervorgehoben, denn seit der Abfassung des Buches hat sich die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der Politik verschärft. Die Gelbwesten-Bewegung hat Deutschland erreicht und auch die Schülerproteste, aus denen Fridays for Future hervorgangenen ist, sind als Entwicklung neu dazu gekommen. Das Wissen der Politiker*innen um den Handlungsbedarf allein reicht nicht aus, es muss gehandelt werden. Anders als die Jugendlichen, die nicht einmal wählen dürfen, sitzt Renate Künast mittenmang im Bundestag. Die ehemalige Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ist als bodenständig, couragiert und durchsetzungsfähig bekannt…

 

Das Buch ist im Callwey Verlag erschienen und kostet 29.95€.

Text: Helga Fitzner

 

 

 

Essbare-Stadt